Von wegen älteste Demokratie
Leserzuschrift an die FAZ v. 18. Mai 2011
Am 30. April nannte der Leitartikel der F.A.Z. England "die älteste Demokratie der Welt". Das ist
politisch korrekt und deshalb genügt zur Prüfung trotz der bekannten zwölf Jahre schon
ein kurzer Blick auf Deutschland. 1688 wurde die englische Krone entmachtet. Doch die
Herrschaft geriet nicht in die Hände des demos, des Volkes, sondern an eine Oligarchie
aus Adel und Großbürgertum.
Als in Preußen 1849 sogar alle Männer der untersten Schichten ein Stimmrecht von geringerem
Gewicht erhielten, durften in England nur 0,8 von 24 Millionen Einwohnern wählen; zudem gab
es bis 1872 keine geheime Wahl, sondern der Wähler musste den bevorzugten Kandidaten mündlich
verkünden, mit leicht vorstellbaren Folgen für jeden der in irgendeiner Abhängigkeit stand.
Als 1871 im Kaiserreich ein allgemeines (männliches) Wahlrecht eingeführt wurde, durften in
England nur 3 von 35 Millionen Einwohnern wählen.
Auch nach weiteren Korrekturen gab es 1914 in England noch etwa zwei Millionen Arme (Männer),
die kein Wahlrecht hatten, aber es gab etwa 0,5 Millionen Reiche, die bis zu 20 Pluralstimmen hatten.
Zugegeben: Der Reichstag konnte den Kanzler nicht stürzen (keine Parlamentarisierung).
Doch das war
und ist nur für Ideologen wichtig, denn jedes Gesetz und jedes Budget brauchte die Zustimmung des
Reichstags. Mithin haben alle Reichskanzler um Mehrheiten ringen müssen.
Es führt zu der Frage: Hat die Anglophilie Ihren Korrespondenten blind gemacht?
DR. FRANZ UHLE-WETTLER, MECKENHEIM
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