"Es war der große Tag des Xavier Magnée. Der Staranwalt und
Haupt-verteidiger des Kinderschänders Marc Dutroux warf dem Gericht
die Vertuschung des Netzwerks
hinter seinem Mandanten vor!" |
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Der Anwalt als Ankläger
Er stehe kurz vor der Pensionierung, sagt er [Magnée] lakonisch vor
Beginn des großen Prozesses, der auch sein großer Prozess ist - da habe er
nichts mehr zu verlieren. ...
Mit der Verteidigung Dutroux', für die Magnée kein Geld nimmt - nicht vom
Angeklagten und nicht vom Staat -, wird er sich einen spektakulären
Abgang verschaffen. ...
Er klagt die belgische Gesellschaft an, jenen Staat, der "krank" sei
"tief im Innern seines Systems". Das "Gesetz des Schweigens" habe sich
wie ein zäher, unsichtbarer Film über die Affäre Dutroux gelegt. Der habe
Mittäter und Mitwisser gehabt. "Der Teufel, er ist nicht allein." ...
Magnée widerspricht mit seinen Ausführungen der These der Anklage und des
Vorsitzenden Richters, die die so genannte Netzwerktheorie verworfen
haben. ...
Magnée betont nun, Dutroux sei fest "im kriminellen Milieu von Charleroi"
verankert gewesen, einer Mafia, die von Autoschieberei, Prostitution,
Drogenschmuggel gelebt habe. Magnée wendet sich direkt an die zwölf
Geschworenen: "Ich bitte Sie, öffnen Sie Ihre Augen und blicken Sie auf
das, was Sie beunruhigt, was Sie stört!" ...
Der Anwalt listet all die Ermittlungspannen auf, zu denen es bis zur
Festnahme Dutroux' im August 1996 kam. Etwa den Fall jenes Polizisten, der
auf der Suche nach Julie und Mélissa auch im Haus von Dutroux waren, der
doch als Kinderschänder vorbestraft war - und frühzeitig wieder entlassen.
Der Beamte hörte die Rufe der Mädchen aus dem Kellerloch wohl, hielt sie
aber für den üblichen Lärm spielender Kinder. Oder die Vernachlässigung
von Spuren wie von rund 6000 menschlichen Haaren, die die Polizei im
Kellerverlies fand. Man untersuchte nur wenige auf ihre DNA und fand
Haare, die weder den Opfern noch den Angeklagten zuzuordnen sind - Beweise
also, dass außer Dutroux noch andere im Verlies waren - "Personen,
die ganz sicher nicht unschuldig sind". Gesucht habe man nicht
nach ihnen.
Auch sei jene Kartei mit 73 Fotos von Mädchen, die in Charleroi
sichergestellt wurde und in der Alter, Größe und Haarfarbe verzeichnet
waren, nie als Beweisstück in die Anklage aufgenommen worden. Die
Staatsanwaltschaft habe in den Akten immer nur so lange gesucht, bis sie
auf den Namen Dutroux gestoßen sei, sagt Magnée - "dann hieß es:
Stopp".
Gewisse Zeugenaussagen seien nie verfolgt worden. Und auch für die
Verstrickung von Kriminellen und Polizisten, die in Charleroi zum Alltag
gehörte, hätten sich die Ermittler offenbar nicht interessiert. Die
meisten dieser Spuren finden sich in einem "Geheimdossier",
das in Arlon nicht verhandelt wird. Da gebe es etwa die nicht verfolgte
Spur eines weiteren Täters im Falle der toten Julie. "
Dieser Mann schaut uns zu. Vielleicht ist er in diesem Saal."
...
Am Ende eines Reigens rhetorischer Fragen
greift der Anwalt des meistgehassten Mannes in Belgien die Politik direkt
an. Warum, fragt er, habe man sich acht Jahre Zeit gelassen und dann ganz
eilig den Prozess angesetzt. "Warum war es plötzlich so dringend?"
Magnée gibt die Antwort selbst: "Der Wald brannte, und der Wald
war das Land." Seine Stimme hebt sich, und die Wut, die in ihr
schwingt, klingt aufrichtig. Es sei der Druck der Öffentlichkeit gewesen,
der die Justiz unter Zugzwang gesetzt habe. Und deshalb sei dieser Prozess
in hohem Maße "politisch". ...
Wo sind all die anderen Kinder geblieben?
Im Dutroux-Prozess geht es um das Schicksal von sechs Kindern.
Verschwunden sind aber viel mehr. Drei Fragen und eine bedrückende
Vermutung
Das Mädchen schaut in die Kamera. Es will nicht, aber es muss. Die Augen
sind aufgerissen, angsterfüllt und traurig zugleich. Sein Gesicht ist
schmerzverzerrt. Denn auf dem nackten Bauch des kleinen Mädchens steht ein
glühendes Bügeleisen. Hals, Arme und Beine sind mit Ketten an ein Bett
fixiert.
Der perverse Peiniger ist auf dem Bild nicht zu sehen. Man kann nur
erahnen, wie sich seine Lust mit den Schmerzen des Kindes steigert. Genau
wie die Gier des pädophilen Voyeurs am anonymen Computer. Das widerliche
Foto fanden private belgische Ermittler 1998 in einer Wohnung im
niederländischen Nordseebad Zandvoort. Es stammt aus dem Besitz des
Belgiers Robby van der P., der nach Recherchen der WELT ein Bekannter von
Dutroux ist.
Auf den sichergestellten und den Ermittlungsbehörden zugänglich gemachten
Disketten befinden sich unzählige solcher Aufnahmen. Doch niemand fragt
mehr, wer diese Kinder sind. Und viele Täter kann man sogar erkennen.
Trotzdem sucht offenbar keine Behörde nach ihnen.
Warum?
Obwohl Michel Bourlet, der Staatsanwalt im Dutroux-Prozess, das gesamte
Material hat, dreht sich in Arlon alles nur um sechs Opfer: Julie,
Mélissa, An, Eefje, Sabine und Laetitia. Während die beiden
letztgenannten Mädchen aus dem Folterkeller des Kinderschänders lebend
befreit werden konnten und als Zeugen ausgesagt haben, kann man den
anderen vier Kindern nur noch Blumen an die Gräber bringen. Sie werden für
immer schweigen. Das ist vor allem im Sinne derjenigen in den belgischen
Sicherheitsbehörden, die die Verbindungen von Dutroux zu einem
Pädophilen-Netzwerk und in höchste politische Kreise vertuschen wollen.
Im laufenden Prozess wird die Illusion geschaffen, Dutroux sei nur ein
perverser Einzeltäter. Die Verhandlungen laufen so ab, als ob die
Ermittlungen am Anfang stünden. Als ob nicht fast acht Jahre seit der
Festnahme Dutroux' vergangen - und als ob nicht 27 Zeugen und zwei
Untersuchungsbeamte ums Leben gekommen wären. Dabei sind nicht nur die
sechs Mädchen, deren Schicksale nun die Gemüter bewegen, Opfer der
Kinderporno-Mafia geworden. Allein in Belgien werden weitaus mehr
Kinder vermisst oder sind ermordet gefunden worden.
Sie heißen Elizabeth Brichet (12), Simon Lembi (16), Kodra Merita (15),
Jonathan Vicart (6 Monate alt), Sylvie Carlin (19), Nabil Akachar (10),
Carola Titze (14), Vinciane Closset (17), Nathalie Geisbregts (10), Ken
(8) und Kim (12) Heyrman, Tanja Groen (18), Ilse Stockman (19), Conrad
Bosman (20), Christine van Hees (16), Hanim Ayse Mazibas (8), Katrien De
Cuyper (15), Carine Dellaert (16), Lieveke Desmet (13), Wendy Willems (8),
Laurence Mathues (16), Puia Marinescu (9), Marc Vanherf (14), Gevrye Cavas
(6), Liam Van den Branden (2).
In fast allen Fällen gibt es konkrete Hinweise auf Verbindungen zu dem
internationalen Pädophilen-Netz, für das Dutroux gearbeitet haben soll.
Auf den in Zandvoort gefundenen Aufnahmen befinden sich nach Aussagen
belgischer Privatermittlern Bilder von den vermissten oder ermordeten
Kindern. Obwohl sowohl Dutroux selbst erklärt hat, Teil des Netzwerks zu
sein, als auch Staatsanwalt Michel Bourlet immer wieder beteuert hat, der
Kinderschänder habe nicht auf eigene Rechnung gearbeitet, bleibt diese
Spur kalt.
Warum?
Verdunkelt und desinformiert wird aber nicht nur in Belgien. Wo Verbindungen
des Pädophilen-Netzes in höchste Kreise deutlich werden, tauchen
die Ermittlungsbehörden vieler europäischer Länder ab. Pannen und
Peinlichkeiten häufen sich, auch in Deutschland. Im Fall des seit 1993
vermissten Berliner Jungen Manuel Schadwald schalten Berliner Polizei und
Staatsanwaltschaft auf stur - obwohl die Hinweise auf die Verschleppung
des damals Zwölfjährigen in das niederländische Kinderporno-Milieu
erdrückend sind. Zeugen wurden entweder nicht gefunden oder für
unseriös erklärt. Die Antwort auf die Frage nach dem Schicksal des
Jungen bleiben die Berliner Ermittler bis heute schuldig. Stattdessen
wurden engagierte private Ermittler denunziert.
Warum?
Wie es anders gehen kann, zeigen die Portugiesen. Zwar wurde
ein Kinderschänderring, der in höchste Kreise reichte,
ebenfalls jahrelang von Behörden und Justiz gedeckt, doch
inzwischen hat sich die Wahrheit durchgesetzt. Die Ermittlungsbehörden
scheuten sich nicht, den bekannten Fernsehmoderator Carlos Cruz
festzunehmen. Bekannt wurde auch, dass der Hausmeister eines
Waisenhauses Politikern, Künstlern, Diplomaten und Journalisten
immer wieder Kinder besorgt haben soll. Die Portugiesen
verloren zwar einige ihrer Vorbilder, aber nicht ihren Stolz.
Viele Belgier hatten bis zum Prozessbeginn gehofft, auch in ihrem Land
werde die Gerechtigkeit siegen. Doch der bisherige Verlauf lässt ahnen,
dass Belgiens Behörden sich offenbar darauf beschränken, nur bislang
bekannte Taten juristisch zu werten. Jean Lambrecks, der Vater der
ermordeten Eefje, befürchtet: "Es werden sicherlich einige Fragen offen
bleiben. Und das ist schwer genug zu ertragen." |
Die Welt - Magazin - 02.06.2004, Seite 10 |
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