Zuerst vor der eigenen Türe kehren
Den bedenkenswerten Aufsätzen von Reinhard Müller "Rechtsstaat in Gefahr" und Dieter Grimm
"Grenzen der Mehrheitsherrschaft" (FA.Z. vom 4. und 5. Januar) über die Lage der Demokratie
in Polen ist der vergleichende Hinweis hinzuzufügen, wie brüchig Demokratieprinzip und Rechtsstaatlichkeit
seit einigen Monaten in Deutschland geworden sind. Man sollte zuerst vor der eigenen Türe kehren, wenn
es um die demokratische Sauberkeit in der europäischen Gemeinschaft geht.
Seit Beginn der Flüchtlingskrise hat die deutsche Bundesregierung die einschlägigen Paragraphen und
Verfassungsartikel, die Strafvorschriften und sogar das Legalitätsprinzip beiseitegeschoben, um -
positiv ausgedrückt - Deutschland ein warmes, den Menschen zugewandtes und willkommen heißendes Gesicht
zu geben. Durch die Summe des Guten verführt, meint die Regierung in Berlin, sich nicht mehr an Gesetz
und Recht halten zu müssen. Die Regierung hat sich sogar entschlossen, die ausdrückliche Vorgabe des
Grundgesetzes, dass sich auf das Asylrecht nicht berufen kann,
"wer aus einem Staat der Europäischen Union einreist", nicht mehr zur Anwendung zu bringen.
Wie mahnte der Bundesverfassungsrichter a.D. Dieter Grimm in der FA.Z. die polnische Regierung:
"Es
steht nicht in der Macht der Regierenden, die Verfassung, von der sie ihre Befugnisse ableiten, um ihre
Wirkung zu bringen." Gilt für Deutschland etwas anderes? Auch eine deutsche Bundeskanzlerin hat
kein Recht, Einreiseerlaubnisse in Millionenhöhe zu vergeben,
ohne dass dies vom Recht und von ihren Kompetenzen aus der Verfassung gedeckt wäre. Sie ist nicht
der Alte Fritz und auch nicht die Kaiserin Maria Theresia.
Selbstverständlich: Not kennt kein Gebot, und manchmal müssen Regeln beseitegeschoben werden, um
höherrangige Rechtsgüter zu schützen. Aber auch dann muss - wenn es um staatliches Handeln geht -
nach dem Demokratieprinzip das Parlament diese Genehmigung erteilen, erst recht dann, wenn der Vorgang
"wesentlich" ist. Dies ist die demokratische Geschäftsgrundlage unserer Verfassung.
Reinhard Müller schreibt zu Recht, dass man über die Fundamente des Rechtsstaats nicht streiten kann.
An die Adresse der neuen Regierung in Polen fügt er hinzu: "Dazu gehören die Gewaltenteilung und
damit die Erkenntnis, dass auch eine frei gewählte Regierung, die eine Mehrheit der Wähler hinter
sich weiß, nicht alles machen darf und unabhängiger Kontrolle bedarf ..." Dem kann man nur
zustimmen, aber noch mal: Das gilt für Deutschland genauso!
Der Unterschied zu Polen besteht aktuell nur darin, dass es in Warschau einen vom Volk so verfügten
Macht- und Richtungswechsel gegeben hat, während in Deutschland nun zum wiederholten Mal die
wesentlichen Entscheidungen (wie schon zuvor bei der sogenannten Euro-Rettung versucht)
vom Parlament nicht getroffen worden sind - geschweige
denn von der wahlberechtigten Bevölkerung, der vielmehr in Sachen Einwanderung vor der
letzten Wahl mindestens von zwei der drei Regierungsparteien deutliche Restriktionen versprochen worden waren.
DR. PETER GAUWEILER, BAYERISCHER STAATSMINISTER A.D., MÜNCHEN
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