Grenzen
Alle Menschen werden Brüder?
Ob Euro-Rettung oder Flüchtlingshilfe: Das Recht wird gebrochen, um den Traum grenzenloser Solidarität zu
verwirklichen. Dabei sind Grenzen für eine offene Gesellschaft unverzichtbar.
von Rainer Hank
Maastricht, Schengen, Dublin. Die unschuldigen Namen dreier europäischer Städte sind das
Symbol für das Versagen
des Rechts in Europa. Das Jahr 2015 wird als ein Jahr des Rechtsbruchs in die
Geschichte eingehen, eines
Rechtsbruchs, der deswegen dramatisch ist, weil er von Staaten begangen wurde, die eigentlich für den Schutz
des Rechts verantwortlich sind. Was ist der Rechtsstaat wert, wenn die Staaten sich ihm nicht mehr unterordnen?
Woran sollen wir uns halten, wenn wir uns auf das Recht nicht mehr verlassen können?
Als Mitte August für Griechenland ein drittes Hilfspaket im Umfang von 86 Milliarden Euro genehmigt wurde, war
zum wiederholten Mal ein trügerischer Friede ("Zeit kaufen") mit dem Verstoß gegen geltendes Recht bezahlt worden.
Fiskalische Solidarität ist gemäß Geist und Buchstaben des Vertrags über die Europäische Union ("Maastricht")
strikt verboten: No Bailout heißt das Gebot. Das schert die Euroretter nicht, es regt sie noch nicht einmal auf.
In lediglich fünf von 19 Eurostaaten liegt derzeit die Schuldenquote unter den von Maastricht maximal geduldeten
60 Prozent (es sind die fünf kleinsten: Estland, Lettland & Co.).
Griechenland hingegen weist 177 Prozent aus, Italien 134 und Deutschland 76 Prozent.
Alles verboten! Aber es
wird nicht geahndet. Dass die Europäische Zentralbank im Verein mit einer Reihe nationaler Notenbanken
gegen
ihr Mandat die Grenze zur monetären Staatsfinanzierung längst überschritten hat,
gehört ebenfalls zum alltäglichen
Rechtsbruch.
Europa wird nicht mehr durch das Recht integriert, – sondern durch den Rechtsbruch, falls man dies noch
Integration nennen darf und nicht besser als Zeichen des Zerfalls deuten muss. Die
Krise Europas resultiert
nicht aus überzogener, sondern aus unzureichender Rechtstreue. Wer dies beklagt, wird entweder als Legalist
verspottet oder, schlimmer noch, mit Achselzucken übergangen.
Schengen ist zur Makulatur geworden
Die Flucht von Hunderttausenden Menschen in die EU quittiert die Gemeinschaft ein weiteres
Mal mit Rechtsbruch.
Das Dublin-Abkommen zur Registrierung und Aufnahme der Flüchtlinge im Land ihrer Ankunft hat sich als untauglich
erwiesen. Und das nicht erst seit dem Ansturm der vielen. Schon 2011 wies das deutsche Innenministerium das
Bundesamt für Migration an, Asylbewerber nicht mehr gemäß der Dublin-Verordnung nach Griechenland zu überstellen,
da dort die Menschenrechte nicht geachtet würden. Damit entfiel schon damals für die Griechen jeglicher Anreiz,
die Kontrollen ernst zu nehmen. Ökonomen nennen das "Moral Hazard".
Angesichts des Drucks auf die Außengrenzen ist das Schengen-Regime inzwischen vollends zur Makulatur geworden.
Seine Philosophie besteht bekanntlich darin, den Schutz der Binnengrenzen abzubauen, wenn der Schutz der
Außengrenzen verstärkt wird. Der Abbau im Inneren hat stattgefunden, aber die Außengrenzen sind undicht,
weil die Staaten mit der Aufgabe überfordert sind. Der Schengen-Deal ist gescheitert – was gerade jene
beklagen müssten, die mit guten Gründen vom Segen der Einwanderung überzeugt sind, aber diese nicht auf
einen Rechtsbruch gründen lassen wollen.
"Machen den Ausnahmezustand zum Regelfall"
"Wir machen den Ausnahmezustand zum Regelfall, ohne den Notstand erklären zu müssen, weil ihn zu erklären
eine Tabuverletzung wäre", sagt der Kölner Staatsrechtler Otto Depenheuer. Die Vorsorge für den Ausnahmezustand
durch eine Notstandsgesetzgebung war in den sechziger Jahren von einer breiten linken politischen
Bewegung bis aufs Messer bekämpft worden. Es darf den Notstand bis heute offiziell nicht geben. Deswegen
ereignet er sich jetzt einfach schicksalhaft. Und die Rebellen von damals schweigen.
Die Idee der Entpolitisierung durch das Recht, der auch die Politik sich zu unterwerfen hat, wird inzwischen
abgelöst durch eine Repolitisierung von Europas Unordnung. Man meint, es genüge, dass die handelnden
Akteure demokratisch gewählt wurden und heuristisch agieren. Doch wer die Notwendigkeit von Prinzipien
leugnet, verfällt ins Dahintreiben: Das Fahren "auf Sicht" gilt als Ausweis pragmatisch-demokratischer
Rationalität in der Krise. Dabei war es einmal eine der Gründungsformeln des neuzeitlichen Rechtsstaates,
dass nicht alles, was Gegenstand demokratischer Mehrheitsentscheidung sein könnte, auch erlaubt ist.
Das Volk wird im Übrigen nicht gut behandelt: Weder zu den Euromilliarden noch zur Flüchtlingshilfe
wagte man es zu befragen, gilt das Volk hierzulande doch als unberechenbar. Am Ende ist das eingetreten,
was der Paternalismus der Eliten verhindern wollte: Teile des Volkes fühlen sich heimatlos oder
marginalisiert – die Eliten tragen eine Mitschuld, wenn die völkische AfD zehn Prozent der
Wählerstimmen erhalten könnte.
Disziplinloses Durchwursteln
Inzwischen hat der Ausnahmezustand viel von seinem heroischen
Pathos verloren. Die Ausnahme taugt noch nicht einmal dazu, die Regel zu bestätigen – lässt doch der
Rechtsbruch in Permanenz die Regel zur
Bedeutungslosigkeit schrumpfen und die Ausnahme zur Normalität
mutieren. Am Ende wird disziplinloses Durchwursteln zum Dauerzustand. Die paradoxe Floskel vom
"geordneten Ausnahmezustand", mit der ein Sprecher der Bundespolizei in Rosenheim den Alltag seines
Einsatzortes beschrieb, hätte gut zum Wort des Jahres 2015 getaugt.
Man muss die Euro- und die Migrationskrise zusammendenken.
Beide Rechtsbrüche haben nicht nur eine
zeitliche, sondern auch eine logische Verbindung. Geldpolitik wie Migrationspolitik unterliegen der
Illusion der Grenzenlosigkeit. Mario Draghis "Whatever it takes", sein unbegrenztes Schutzversprechen
für den Euro, ist das monetaristische Pendant der Migrationsökonomik: einer vermeintlich unbegrenzten
Aufnahmekapazität Europas für die Fremden ohne Obergrenze.
Uneingeschränkt kann immer nur die Hilfsbereitschaft sein, nicht aber die
tatsächliche Hilfe. Uneingeschränkt
kann der Bailout-Wille der Retter sein, nicht aber der konkrete Kredit: Selbst die kaum überschaubaren
Rettungsmilliarden mit allen ihren vielen Nullen sind am Ende endlich. Irgendwann ist Schluss.
Utopie der vollkommenen Entgrenzung
Die Utopie der vollkommenen Entgrenzung ist die große Illusion des herrschenden Universalismus. Von
Schillers Ode an die Freude ("Seid umschlungen, Millionen") führt ein direkter Weg in die Eine-Welt-Läden
Westdeutschlands. "Alle Menschen werden Brüder" mag gut gedichtet sein, aber es ist schlecht praktiziert,
um noch einmal den Staatsrechtler Depenheuer zu zitieren. Inzwischen beginnt die Erste Welt, sich vor
den Folgen ihres Universalismus zu fürchten.
Der menschenrechtliche Moralismus scheitert am ökonomischen Gesetz der Knappheit. Solidarität ist
selbst eine knappe Ressource. Das Geld, das die Griechen bekommen, kann nicht gleichzeitig nach Portugal
fließen. Bloß Mario Draghi meint, die Druckerpresse im Dreischichtbetrieb ("Quantitative Easing")
werde das Knappheitsgesetz außer Kraft setzen.
Wenn es eine Lehre aus den Rechtsbrüchen des Jahres 2015 gibt und einen Weg zurück zum Recht, dann diesen:
Wir müssen neu über Grenzen nachdenken. Und zwar gerade dann, wenn wir davon überzeugt sind, dass die
Wanderung der Menschen und der Tausch von Waren und Dienstleistungen im Saldo zum Wohle aller sind –
und jegliche Art des Protektionismus zu Armut und Unfreiheit derer führt, die sich abschotten.
"Wir können nicht alle lieben"
Was ist eine Grenze? Es ist die Linie, die innen und außen scheidet, Zugehörige von Nichtzugehörigen trennt
und Orientierung bietet. Kindern muss man "Grenzen setzen". Wer freilich die Grenze auf das Bild des
geschlossenen Schlagbaums reduziert, hat nichts verstanden. Dass offene Märkte für Waren wie Menschen
auf offene Grenzen angewiesen sind, ist die Einsicht der europäischen Aufklärung.
Aber es geht stets um
die Anerkennung der Grenze, nicht um deren Wegfall, wovon der Universalismus träumt. Denn es hilft alles
nichts: Das Gesetz der Knappheit nötigt zur Auswahl. "Wir können nicht alle lieben", wusste der heilige
Augustinus, ein Kirchenvater der Spätantike.
Daraus muss man heute nicht mehr zwingend folgern, dass zuallererst den
christlichen Mitbrüdern und Schwestern Solidarität und Liebe zuteilwerden solle.
... Niemand darf sich den Zufall,
durch Geburt deutscher Staatsbürger geworden zu sein, als individuelle Leistung anrechnen. Das befreit aber
den Club der Deutschen nicht von der Pflicht zu entscheiden, wem Hilfe zuteilwerden soll und
wo die Grenze
ist und ob er sich 100.000 oder eine Million Flüchtlinge zumuten will.
Souveränität ist in Verruf gekommen
Die bisher beste und historisch längste Erfahrung im Umgang mit Grenzen haben die Völker im Lauf der
Geschichte mit dem Nationalstaat gemacht. Nicht zuletzt im
späten 19. und frühen 20. Jahrhundert rühmte er sich größter Offenheit. ....
"Was soll schlimm sein an zivil
geöffneten Staaten?", sagt der ehemalige Verfassungsrichter Udo Di Fabio.
Der zum Nationalstaat zwingend dazugehörende Grenzbegriff ist jener der Souveränität: die dem Staat
eignende absolute und zeitlich unbefristete Gewalt. Auch die Souveränität ist in Verruf gekommen,
ebenfalls zu Unrecht. Um den Euro zu retten, seien die Staaten gezwungen, nicht nur geldpolitische,
sondern auch fiskalische und sozialpolitische Souveränität an Brüssel abzugeben, wird gefordert.
Die solcherart provozierte Umverteilungslust Brüsseler Bürokraten würde
die Praxis unkontrollierter
Verantwortungslosigkeit in Europa nur vergrößern. Man wird Verständnis dafür haben müssen, dass Staaten
wie Griechenland oder Ungarn die Drohung, deutsche oder französische Polizisten könnten demnächst zur
Grenzsicherung auf ihrem Hoheitsgebiet aktiv werden, als Beschädigung ihrer Souveränität interpretieren.
Das Stärkste, was die Schwachen haben
Nicht die Abschaffung nationalstaatlicher Souveränität, sondern ihre Stärkung wäre ein Ausweg. Das Konzept der
"Volkssouveränität" ist eine vernünftige Erfindung der Aufklärung. Es enthält nicht nur eine "rechte",
sondern auch eine "linke" Lesart: Nicht nur den Eliten, sondern auch den einfachen Leuten sind Macht und
Selbstbestimmungsrecht in ihrem Staat gegeben, in dem alle sich aufgehoben fühlen dürfen. In Abwandlung
eines alten Gewerkschaftsspruches könnte man sagen: Der Nationalstaat ist das Stärkste, was die Schwachen haben.
Volkssouveränität in den Grenzen des Nationalstaats ist die angemessenere Voraussetzung für eine offene
Gesellschaft als der moralische Universalismus der Grenzenlosigkeit. Am Ende ist der langsame
Streichquartettsatz der deutschen Nationalhymne von Haydn/Hoffmann von Fallersleben nicht nur musikalisch,
sondern auch politökonomisch dem universalistischen Schlusschor aus der neunten Symphonie von Beethoven/Schiller überlegen.
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